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Interventionsstudie PRimus - Psychosoziale Ressourcen im Jugendsport Methoden und Ergebnisse der Evaluation der Programmdurchführung und Programmwirksamkeit

An den organisierten Kinder- und Jugendsport wird eine große Anzahl an Aufgaben herangetragen, die weit über die Entwicklung von sportlich-motorischen Fähigkeiten und Fertigkeiten hinausreichen (Schmidt, Hartmann-Tews & Brettschneider, 2003). Der Vereinssport soll Kinder und Jugendliche sozial integrieren, präventiv gegen Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit wirken, zur emotionalen Stabilität beitragen, vom Alltagsstress ablenken und soll vielfältige sportübergreifende Kompetenzen und Ressourcen entwickeln (vgl. BZgA, 2004). Der Vereinssport soll demnach einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der Persönlichkeit von Heranwachsenden leisten (Brettschneider, 2008; Gerlach, 2008b). Im zwölften Kinder- und Jugendbericht wird dem Sport "[…] eine maßgebliche Bildungswirksamkeit zugesprochen, die zunächst die unmittelbar körperbezogenen Kompetenzen (Körpererfahrung, -ästhetik, -ausdruck), aber auch nicht unmittelbar sportbezogene Kompetenzen im sozialen, politischen und kognitiven Bereich einschließt (Teamfähigkeit, Selbstvertrauen, Selbstorganisation, Verantwortungsfähigkeit)" (BMFSFJ, 2005, S. 376). Diese Potentiale und die normative Akzentuierung des Sports (Sport soll die Persönlichkeitsentwicklung stärken!) werden zunehmend im Kontext der Bildungsdiskussion reflektiert (u. a. Deutsche Sportjugend, 2009; Heim, 2008; Krüger & Emrich, 2009; Neuber, 2009). Doch diese vielschichtigen Hoffnungen gehen weit über die klassischen Kernaufgaben des Vereinsports hinaus und es ist fraglich, ob diese Hoffnungen in ihrer Gesamtheit erfüllt werden können. Es bleibt festzuhalten, dass grundlegende Annahmen über die positiven Wirkungen sportlicher Aktivität im Verein noch nicht umfassend geklärt werden konnten (Brettschneider & Hummel, 2007; Schmidt, 2008). Der gegenwärtige Forschungsstand der sportbezogenen Kindheits- und Jugendforschung (u. a. Burrmann, 2005, 2008a; Heim, 2002) zeigt dagegen, dass vereinssportliche Aktivität nur unter bestimmten Bedingungen (u. a. hoher Trainingsumfang und Leistungsorientierung) positiv auf die Persönlichkeitsentwicklung wirkt. Mit Persönlichkeitsentwicklung ist dabei die Stärkung von psychischen Ressourcen (z. B. Selbstkonzept) und sozialen Ressourcen (z. B. Gruppenkohäsion) gemeint, welche kognitive, emotionale, motivationale und soziale Potentiale einer Person darstellen, die zur Bewältigung alltäglicher und sportlicher Anforderungen und Aufgaben von zentraler Bedeutung sind (Willutzki, 2003). Die Stärkung dieser psychosozialen Ressourcen tritt jedoch nicht automatisch ein, sondern bedarf einer spezifischen Inszenierung des organisierten Kinder- und Jugendsports. Die Wirkungen dürften daher im hohen Maße von der Qualität der sportlichen Gestaltung abhängig sein (Brettschneider & Kleine, 2002). Vor diesem Hintergrund forderte bereits der Erste Deutsche Kinder- und Jugendsportbericht (Schmidt, Hartmann-Tews & Brettschneider, 2003a) eine Qualitätsentwicklung des organisierten Kinder- und Jugendsports: "Um das pädagogische und soziale Potenzial, das im Sport steckt, […] zu erschließen und zu nutzen, sind gezielte Interventionsprogramme nötig, die systematisch ausgewertet werden müssen" (Schmidt, Hartmann-Tews & Brettschneider, 2003b, S. 409). Mit dieser Forderung verbinden sich zwei Ansprüche: (1) Die normative Begründung von Zielen, Inhalten und Methoden sportlicher Jugendarbeit sowie die (2) Ableitung gezielter Interventionsprogramme und deren systematische Evaluation (Sygusch, Brandl-Bredenbeck & Burrmann, 2009). (1) Am ersten Anspruch setzt das Förderkonzept "Psychosoziale Ressourcen im Sport" (Sygusch, 2007; Herrmann & Sygusch, 2009a, 2009b) an und versucht, neben der körperlich- motorischen, auch psychosoziale Persönlichkeitsmerkmale im organisierten Kinder- und Jugendsport zu fördern. Es versteht sich als Beitrag zur Entwicklung der sportlichen Handlungs- und Leistungsfähigkeit (… im Sport) sowie zur allgemeinen Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen (… durch Sport) und geht von folgender Grundidee aus: "Eine systematische Förderung psychosozialer Ressourcen durch Sport muss an Anforderungen ansetzen, die im Sport selber von Bedeutung sind" (Sygusch, 2007, S. 10). Es müssen also solche Ressourcen gestärkt werden, die zur Bewältigung sportartspezifischer Anforderungen notwendig sind und es müssen Methoden angewendet werden, die einen sportartspezifischen Bezug aufweisen (Sygusch, 2007). Nach dieser Grundidee erfolgte aus Sicht der Sportwissenschaft (u. a. Sportpädagogik und -psychologie, Kindheits- und Jugendforschung) sowie aus Sicht der unterschiedlichen Anwendungsfelder in der Praxis (u. a. sportliche Jugendarbeit, Talentförderung) eine Auswahl von fünf Ressourcen: Selbstkonzept, Selbstwirksamkeit, soziale Kompetenzen, sozialer Rückhalt und Gruppenzusammenhalt (WAS soll gefördert werden?). Daraus wurden sechs Kernziele zur Förderung dieser psychosozialen Ressourcen formuliert (WOHIN soll gefördert werden?) sowie Prinzipien und Maßnahmen zur methodischen Gestaltung (WIE soll gefördert werden?) begründet. Die methodischen Maßnahmen zielen auf die Rahmenbedingungen des Trainings (Trainer als sportliche Entwicklungshelfer, angstfreie Lernatmosphäre) und auf die konkrete Gestaltung (Aufgreifen, Inszenieren und Thematisieren) von sportartspezifischen Lernsituationen. Dieses Förderkonzept versteht sich als Rahmenkonzept, das an die Anforderungen unterschiedlicher Sportarten und Settings (z. B. Kinder- und Jugendvereinssport) angepasst werden muss. Die Deutsche Sportjugend (dsj) hat dieses Konzept unter dem Titel "Persönlichkeits- und Teamentwicklung im Kinder- und Jugendsport" (Deutsche Sportjugend, 2002, 2005) übernommen und die Entwicklung von Transferkonzepten im Handball (Deutsche Handballjugend, 2006) und im Gerätturnen (Deutsche Turnerjugend, 2005) unterstützt. (2) Am zweiten Anspruch - die systematische Evaluation eines gezielten Interventionsprogramms (Schmidt et al., 2003b) - setzt die Studie PRimus (Psychosoziale Ressourcen im Jugendsport) an, welche die sportartspezifischen Transferkonzepte im Handball und Gerätturnen in den Trainings- und Wettkampfalltag implementiert und im Hinblick auf ihre Umsetzbarkeit und Wirksamkeit untersucht. Die Intervention wurde in 29 Trainingsgruppen im Alter von zwölf bis 16 Jahren über sieben Monate im Trainings- und Wettkampfalltag durchgeführt. Zur Vorbereitung und Begleitung erhielten die Trainerinnen und Trainer2 die Transferkonzepte als Handreichung, nahmen an einem Vorbereitungs- und einem Aufbauworkshop teil und bekamen monatlich Newsletter mit Informationen zu den Trainingsschwerpunkten. An dieser Stelle setzt die vorliegende Arbeit an. Neben der theoretischen Aufarbeitung der im Rahmenkonzept verankerten Ressourcen Selbstkonzept, Selbstwirksamkeit, Gruppenkohäsion und soziale Kompetenz wird die Datenauswertung der PRimus-Studie um weiterführende qualitative und quantitative Auswertungsschritte ergänzt und die Ergebnisse vor dem aktuellen Forschungsstand reflektiert. Durch die intensive Mitarbeit des Autors an der PRimus- Studie ist die vorliegende Qualifikationsarbeit mit der Datenerhebung und Datenauswertung der PRimus-Studie eng verwoben. Angelehnt an das heuristische Rahmenkonzept zur Evaluation von Interventionsmaßnahmen (Mittag & Hager, 2000) erfolgten eine Evaluation der Programmdurchführung und eine Evaluation der Programmwirksamkeit. Im Rahmen der Evaluation der Programmdurchführung geht es um folgende Frage: Ist das Konzept im Trainings- und Wettkampfalltag umsetzbar? Dazu wurden problemzentrierte Interviews und eine Fragebogenerhebung mit allen an der Intervention teilnehmenden Trainern zu drei Messzeitpunkten durchgeführt. Im Rahmen der Evaluation der Programmwirksamkeit wird die Frage behandelt: Können die Kernziele erreicht werden - verändern sich die psychosozialen Ressourcen im Interventionszeitraum? Dazu wurde eine kontrollierte Fragebogenstudie im Kontrollgruppendesign mit den Sportlern zu drei Messzeitpunkten eingesetzt. In der vorliegenden Arbeit wird zunächst ein Überblick über die im Förderkonzept verankerten psychischen Ressourcen Selbstkonzept und Selbstwirksamkeit (Kapitel 2) sowie sozialen Ressourcen Gruppenkohäsion und soziale Kompetenz (Kapitel 3) gegeben. Dargestellt werden jeweils die Struktur, die Entwicklung und Förderung sowie der aktuelle Forschungsstand, um das Rahmenkonzept in die Diskussion um die Förderung psychosozialer Ressourcen im Sport einordnen zu können. Das Rahmenkonzept "Psychosoziale Ressourcen im Sport" (Sygusch, 2007), die Transferkonzepte im Gerätturnen (Deutsche Turnerjugend, 2005) und Handball (Deutsche Handballjugend, 2006) sowie die Intervention im Rahmen der PRimus-Studie werden in Kapitel 4 vorgestellt. Die Methodik der PRimus-Studie hat Kapitel 5 zum Inhalt. Nach der Darstellung des zugrundeliegenden Rahmenkonzepts zur Evaluation der Interventionsmaßnahme werden die Evaluation der Programmdurchführung und die Evaluation der Programmwirksamkeit beschrieben, sowie die zugrundeliegende Stichprobe offen gelegt. In Kapitel 6 werden die Ergebnisse der Evaluation der Programmdurchführung hinsichtlich der Umsetzung der methodischen Rahmenbedingungen, der Umsetzung der methodischen Maßnahmen und der Verinnerlichung des Konzepts durch die Trainer als Experten für die Ressourcenförderung ausgeführt. Weiterhin wird dargestellt, wie die Trainer als Experten für die Konzeptbewertung die Umsetzbarkeit des Konzepts einschätzen. Anschließend erläutert Kapitel 7 die Ergebnisse der Evaluation der Programmwirksamkeit für die psychischen Ressourcen Selbstkonzept und Selbstwirksamkeit sowie für die sozialen Ressourcen Gruppenkohäsion und soziale Kompetenz. Dabei werden jeweils die Ergebnisse der qualitativen und quantitativen Datenauswertung aufgezeigt und aufeinander bezogen. Im letzten Kapitel werden die zentralen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit zusammengefasst und aus theoretischer, methodisch-didaktischer sowie untersuchungsmethodischer Perspektive diskutiert.
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Schlagworte: Sportwissenschaft Jugend Kinder- und Jugendsport soziale Beziehung Handball Gerätturnen Nachwuchsleistungssport
Notationen: Trainingswissenschaft Nachwuchssport Sozial- und Geisteswissenschaften
Veröffentlicht: Jena Friedrich-Schiller-Universität Jena 2011
Seiten: 476
Dokumentenarten: Dissertation
Sprache: Deutsch
Level: hoch