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Die Spielfähigkeit von Nachwuchshandballerinnen

Seit 1997 führt der Süddeutsche Handball Verband bestehend aus den Landesverbänden Badischer Handball Verband, Bayerischer Handball Verband, Südbadischer Handball Verband, Handball Verband Sachsen, Handball Verband Württemberg ein Talentcamp durch, das Süd-Camp. Anlaß für die Entwicklung eines solchen Camps war die Überarbeitung der Landeskonzeption; Talentförderung war nun als Schwerpunkt verankert. Talentsichtung und -schulung wurden somit zu einer zentralen Aufgabe der Verbände. Es musste eine Maßnahme geschaffen werden, die, wie WOHLRAB, LANDGRAF und FELDMANN (1998) formulieren, als "spezielle Sichtungsveranstaltung" (S. 27) einerseits "Erkenntnisse über den Ausbildungsstand der Kader" (S. 27) liefert, andererseits aber "allen Beteiligten auch Spaß machen" (S. 27) soll. Ergebnis ist das heutige Süd-Camp, in dessen Rahmen sich junge Handballer2 in koordinativen und konditionellen Tests beweisen müssen, bei handballspezifischen und -unspezifischen Wettkämpfen gefordert werden und nebenbei noch Einblicke in die eine oder andere Erlebnissportart erhalten. Den Abschluß bildet ein bunter Abend, an dem zum einen die Sieger für ihre Leistungen geehrt werden und zum anderen alle Verbände noch einmal gefordert sind, wobei diesmal vorrangig Kreativität gefragt ist. Die kulturellen Beiträge - Gesangsdarbietungen, Spiele, Sketche, o.ä. treiben die Stimmung abschließend nochmals auf die Spitze. Wesentliches Element bleibt aber die Sichtung der Talente. Ein schwieriges Thema, denn "Talenten liegen [...] optimale individuelle Merkmalskombinationen [Anlage, Entwicklung, Fähigkeitsausprägungen, Trainingsanforderungen] für bestimmte Leistungen zugrunde, die für eine bestimmte Fähigkeit nicht generalisierbar sind" (MARTIN, NICOLAUS, OSTROWSKI und ROST, 1999, S. 166), d.h. "das Talent" läßt sich nun einmal nicht einfach definieren. Ein weiteres Problem liegt darin, dass sich die erste Beurteilung meistens nach dem aktuellen Leistungsstand richtet, ohne Vorerfahrungen, Trainingsalter oder Unterschiede im biologischen Alter zu berücksichtigen. Ein reiner Leistungs-Check ermöglicht auch keine Aussagen über die Entwicklungsmöglichkeiten der Sportler. Ein Aspekt, der, wie sich im dynamischen Talentverständnis nach JOCH (1992) zeigt, aber eine entscheidende Rolle spielt. Dennoch muß irgendwann die erste Entscheidungüber Talent oder Nicht-Talent getroffen werden, für die nun mal noch keine Entwicklungsverläufe vorliegen, sondern auf den aktuellen Leistungsstand zurückgegriffen werden muß. Dies macht es erforderlich, dass das erste Aufeinandertreffen von DHB-Trainern und Spielern so aufschlußreich wie möglich zu gestalten ist. Für das Süd-Camp bedeutet dies, dass Mittel und Methoden gefunden werden müssen, "die diese Probleme lösen oder ihnen zumindest entgegenwirken" (WOHLRAB et al., 1998, S. 28). Aus diesem Grund wurden drei Grundsätze formuliert. Wesentliche Aussagen daraus sind: 1. Talentsichtung muß die Überprüfung gelernter Techniken und taktischer Entscheidungen enthalten. Vorgeschlagen werden einfache Spiel- und Übungsformen unter erschwerten Bedingungen. 2. Talentsichtung muß die Überprüfung der motorischen Lernfähigkeit beinhalten. Über handballspezifische, den Sportlern unbekannte Koordinationsübungen sollen Rückschlüsse auf die motorische Lernfähigkeit getroffen werden. 3. Talentsichtung muß das Niveau der konditionellen Fähigkeiten unter Berücksichtigung der Entwicklungsunterschiede erfassen, was über Normwerte, die nach Entwicklungsetappen gestuft sind, erreicht werden soll. Aufbauend auf diesen Überlegungen bietet das Süd-Camp eine günstige Gelegenheit, grundlegende Erkenntnisse über das Leistungsvermögen der jungen Handballer zu erzielen und Unterschiede zwischen den Spielern deutlich aufzuzeigen. Diese Erkenntnisse können dann das Fundament der darauffolgenden Sichtung bilden, da sich daraus Entwicklungsverläufe ableiten lassen. Als Landestrainerin des Badischen Handball Verbands habe ich aus meinen Erfahrungen in der Praxis den Eindruck gewonnen, dass dies nicht der Fall ist. Die Ergebnisse des Süd-Camps finden bei den weiteren Maßnahmen - SHV- wie DHBSichtung und DHB-Länderpokal - keine Berücksichtigung mehr. Die Möglichkeit, den dynamischen Aspekt für die Talentsichtung zu nutzen, wird nicht wahrgenommen, obwohl Nominierungen nicht einfach auszusprechen sind. Kaum ein Sichtungsgespräch verläuft ohne Diskussion darüber ab, ob eine Spielerin nun ausreichend talentiert ist oder nicht. Klare nachweisbare Argumente dafür oder dagegen gibt es oftmals nicht. Ein bezeichnendes Beispiel dafür ist der Fall einer Spielerin, die auf dem Spielfeld klar dominierte, im Angriffsverhalten alle erforderlichen Fertigkeiten und Fähigkeiten aufweisen konnte, aber mit der Begründung, zuwenig Emotionen zu zeigen, dennoch nicht nominiert wurde. Dass Diskussionen nie ganz auszuschließen sind, liegt in der Natur der Sache, wie der Begriff der "Talentproblematik" schon zeigt. Es sollte jedoch möglich sein, das heikle Thema etwas zu entschärfen, indem klare Richtlinien vorgegeben werden, an denen sich die Trainer orientieren können. Spieler könnten so gezielter vorbereitet und eingestellt werden, was einige Unstimmigkeiten vermeiden ließe. Tränen und Frustration nach Sichtungen fördern die Leistungsentwicklung bestimmt nicht. Die Erfahrung zeigt, dass sich nach Sichtungsveranstaltungen regelmäßig eine erschreckend hohe Zahl an Spielern beim Verband abmelden und aus dem Leistungssport zurückziehen. Aus diesem Grund war es für mich wichtig, mich mit diesem Thema gezielt auseinanderzusetzen. Die Ursache dieses Problems liegt wahrscheinlich in der Tatsache, dass die Nominierungen zum DHB auf subjektiven Einschätzungen der DHB-Trainer beruhen. Sie geben zum Teil sogar selbst an, dass die Sichtungsentscheidungen "aus dem Bauch heraus" getroffen werden und nur durch "das Gefühl dafür, wer ein Talent ist" (WOHLRAB et al., 1998, S.27) zu begründen sind. Im Rahmen dieser Arbeit soll deshalb das Süd-Camp in Hinblick auf die DHB-Nominierungen einer Evaluation unterzogen werden. Neben einer Beurteilung der Sichtungssituation unter Berücksichtigung der Frage, wie das Süd-Camp unterstützend eingreifen kann, soll es hiermit möglich werden, Bereiche aufzuzeigen, die für Nominierungen ausschlaggebend sind. Die Kenntnis dieser Bereiche läßt zum einen Entscheidungen leichter nachvollziehen und ermöglicht zum anderen Indikatoren zu definieren, die als zusätzliches Sichtungskriterium genutzt werden können, was die Sichtung erleichtert. Der theoretische Teil beginnt zunächst mit einer allgemeinen Einführung in den "vor allem in der Trainingswissenschaft" relativ jungen Forschungszweig Evaluation. Kapitel 2 beschäftigt sich daher neben der einfachen Beschreibung darüber, was unter Evaluation zu verstehen ist, auch damit, die Vielfältigkeit dieses Themas darzustellen. Abschließend wird aufgezeigt, weshalb Evaluation die geeignete Methode ist, wenn es um direkte, praxisrelevante Analysen, wie im Fall des Süd-Camps, geht. Voraussetzung für eine gute Evaluation ist die Kenntnis der Rahmenbedingungen. Bevor also die Nominierung durch die DHB-Trainer analysiert werden kann, gilt es abzuklären, woran sich Leistungsbeurteilungen im Handball orientieren bzw. zu orientieren haben. Welche Anforderungen können an die Spieler gestellt werden? Aus diesem Grund werden in Kapitel 3 verschiedene Sichtweisen darüber vorgestellt, was von guten Handballern gefordert wird. Neben allgemeinen Aussagen zu diesem Thema in der Fachliteratur, beschäftigt sich die Abhandlung schwerpunktmäßig mit der DHB-Rahmenkonzeption, der Orientierungsgrundlage der Talentförderung. Anschließend wird die Ansicht der DHB-Trainer aus Argumenten bei Sichtungsgesprächen aufgestellt. Um die Praxissituation abzuwägen, werden zusätzlich Überlegungen der Sportwissenschaft zum Thema Sportspielleistung angeführt. Im Vordergrund stehen dabei folgende Fragen. Wie baut sich Sportspielleistung auf? Welche Faktoren beeinflussen sie? Wie kann man Leistung im Sportspiel messen? Wie zeigt sich die Handball-Leistung im Vergleich dazu? Aufbauend auf diesen Überlegungen können in den Kapiteln 4 und 5 wesentliche Fragen zur Evaluation des Süd-Camps geklärt werden. Mit Hilfe eines videobasierten Experten-Ratings, das in Kapitel 6 vorgestellt wird, werden die Leistungen der einzelnen Spielerinnen genau analysiert. Die Auswertung der Ergebnisse in Kapitel 7 zeigt, ob es möglich ist, Leistungsunterschiede zwischen nominierten und nicht nominierten Spielerinnen auszumachen und wenn ja, wo diese liegen. Im abschließenden Kapitel 8 werden dann die erzielten Ergebnisse im Hinblick auf das Süd-Camp diskutiert, was in einem Ausblick endet.
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Schlagworte: weiblich Talent Spielhandlung Handball Eignung Auswahl
Notationen: Nachwuchssport Spielsportarten
Veröffentlicht: 2002
Dokumentenarten: Diplomarbeit
Sprache: Deutsch
Level: hoch