4012371

Biomechanische Methoden am Beispiel der Sportgeräteentwicklung

Die inhaltliche Zweiteilung dieser Arbeit in einen Teil, in welchem Methoden besprochen werden und einen Abschnitt, der diese Methoden im Rahmen eines biomechanischen Entwicklungsprojektes in ihrer Anwendung demonstriert, hat auch eine Zweiteilung der Ergebnisse zur Folge. Was ist das Neue, welches sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus dem ersten Teil der Arbeit? Im ersten Teil der Arbeit wird festgestellt, dass es in der Entwicklung von Mensch-Maschine-Systemen zu Analyse- und Bewertungsproblemen kommen kann. Kurze Beispiele aus der Praxis erläutern die Begriffe und liefern einen ersten Beleg für diese Behauptung. Die Lösung dieser Analyse- und Bewertungsprobleme - so die weitere Betrachtung der Ausgangssituation - erfordert biomechanische Methoden. Da diese Methoden bislang in der Regel weder Inhalt des Ingenieurstudiums sind, noch in den Methodensammlungen der Konstruktionsmethodik auftauchen, wird eine strukturierte Sammlung von insgesamt zwölf Methoden vorgestellt. Darin enthalten sind jeweils Begriffsdefinitionen, die Beschreibung typischer Anwendungsbereiche, Hilfestellungen zu spezifischen Problemen in der Anwendung, sowie Beispiele und zahlreiche Literaturangaben. Eine Vielzahl zusätzlicher Informationen, z.B. zur Messtechnik oder zur Datenauswertung, werden im Rahmen von Exkursen gegeben, welche dem Anhang beigefügt sind. Am Ende des ersten Teils der Arbeit werden Kriterien für die gezielte Methodenauswahl vorgestellt und Maßnahmen besprochen, die dazu beitragen, im Rahmen der Anwendung biomechanischer Methoden Kosten zu senken. Damit stellt der erste Teil der Arbeit eine in dieser Form erstmalige Zusammenstellung von Verfahrensanweisungen für jene Ingenieure dar, die sich mit biomechanischen Analyse- und Bewertungsproblemen bei Mensch-Maschine-Systemen konfrontiert sehen. Der Nutzen, der aus der vorgelegten Sammlung gezogen werden kann, besteht letztlich in einem Zeitgewinn. Zeit, die ohne diese Arbeit zu investieren wäre, um zum Beispiel die richtige Literatur zu finden und das Wesentliche daraus zu extrahieren. Oder Zeit, die gebraucht würde, um den einen oder anderen methodischen Fehler wieder "auszubügeln". Die hier vorgelegte Sammlung an Informationsquellen bedeutet also einen messbaren Zeitgewinn, wenn Produkte zu konstruieren oder zu optimieren sind, für welche biomechanische Kriterien eine Rolle spielen. Dass der erste Teil mit diesem Inhalt etwas den Charakter eines Lehrbuches bekommen hat, war unvermeidbar. Denn bis heute gibt es im deutschen Sprachraum lediglich ein Einsteigerbuch zum Thema Biomechanik (BALLREICH und BAUMANN [27]), welches aber weder Detailinformationen bringen, noch die Vielschichtigkeit dieser Disziplin in angemessenem Umfang darstellen will. Was ist das Neue, welches sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus dem zweiten Teil der Arbeit? Nachdem im ersten Teil der Arbeit teilweise sehr abstrakte Zusammenhänge dargelegt werden mussten, stellt der zweite Teil den Bezug zur Praxis her. Ausgehend von dem zunächst noch sehr unkonkreten Problem, die Verletzungshäufigkeit im alpinen Skilauf reduzieren zu wollen, wird, mithilfe einiger im ersten Teil besprochener Methoden, die Situation in mehreren Schritten analysiert. Am Ende dieses ersten Analyseblocks steht eine konkrete Entwicklungsaufgabe, nämlich die Realisation einer Auslösefunktion am Schuh des Skifahrers. Diese soll bewirken, dass der Skifahrer in einer ganz bestimmten Situation - einem Sprung mit anschließender Landebewegung - einem geringeren Verletzungsrisiko am Kniegelenk ausgesetzt ist als mit einem herkömmlichen Schuh. Es wird gezeigt, dass das eigentliche Entwicklungsproblem jedoch nicht die konstruktive Umsetzung dieser Auslösefunktion ist, sondern die Beantwortung der Frage, ob diese tatsächlich die gewünschten Auswirkungen auf den Skifahrer hat. Um dieses Bewertungsproblem beantworten zu können, wird ein zweiter umfangreicher Analyseprozess durchgeführt. In diesem werden nahezu alle im ersten Teil der Arbeit besprochenen Methoden - teilweise mehrmals und in Kombination - eingesetzt. Dabei wird demonstriert, wie man sich in kleinen Schritten der Lösung eines solchen Problems nähern kann, wo typische "Stolperstellen" sind und wie sie umgangen werden können. Zunächst entsteht auf der Grundlage der im ersten Analyseblock gewonnenen Erkenntnisse ein Prototyp eines Skischuhes mit einem integrierten Auslösemechanismus. Ob dieser Schuh tatsächlich die erwünschte belastungsreduzierende Wirkung auf das Kniegelenk - speziell auf das vordere Kreuzband - hat, wird dann mit Hilfe einer Computersimulation und einem Feldexperiment untersucht. Dazu entsteht unter Verwendung der Daten aus zahlreichen Feld- und Laborexperimenten ein mathematisches Modell des Skifahrers, welches sich durch eine Reihe spezieller Eigenschaften auszeichnet, u.a. durch validierte Teilmodelle, die Berücksichtigung der Wirkung der Muskulatur über bewegungsgesteuerte Regler, das Vorhandensein elastischer Komponenten, Implementierung individueller Werte für die Körpersegmentdaten des untersuchten Probanden, Lösung des sog. Verteilungsproblems. Mithilfe dieses Modells und den begleitenden Felduntersuchungen wird eine als kritisch erachtete Sprung- und Landesituation systematisch analysiert und Rückschlüsse auf die Wirkung des zu bewertenden Auslösemechanismus gezogen. Am Ende dieses gesamten Analyseprozesses steht fest, (1) dass der Sicherheitsmechanismus des untersuchten Prototyps in der betrachteten Situation tatsächlich auslöst, (2) die Charakteristik des Auslösemechanismus noch zu optimieren ist, um relevante mechanische Entlastungseffekte zu erzielen, (3) positiv zu bewertende muskuläre Effekte in Folge des Auslösevorganges auftreten. Insgesamt zeigt das Entwicklungsbeispiel die Komplexität auf, die im Zusammenhang mit biomechanischen Konstruktionsproblemen entstehen kann. Bei der Vielfalt von Produkten, bei denen biomechanische Aspekte zu berücksichtigen sind, kann es keinen Standardweg zur Lösungsfindung geben. Es wurde aber versucht, die gewählte Vorgehensweise so darzustellen, dass es möglich ist, sie sinngemäß auch auf andere Fragestellungen zu übertragen. Nicht vergessen werden sollte, dass im Rahmen der Bewertung des Funktionsmechanismus ein wertvolles Nebenprodukt entstanden ist, nämlich ein universell verwendbares, anthropometrisch-biomechanisches Computermodell eines Menschen. Dieses und die in den einzelnen Arbeitsschritten entwickelten Module stehen nun zur Verfügung und sind, mit mäßigem Aufwand, nicht nur für die Simulation anderer Bewegungen, sondern auch als entwicklungsbegleitendes Werkzeug (z.B. für die Konzeption und Auslegung von physikalischen Modellen oder von Prüfeinrichtungen) einsetzbar. Dass sich aus der wissenschaftlichen Analyse des Vorganges und insbesondere der Verhältnisse im Kniegelenk neue Fragen und Ansätze für weitere Studien ergaben, muss nicht weiter verwundern.
© Copyright 2001 Alle Rechte vorbehalten.

Schlagworte: Sportgerät Entwicklung Konstruktion Biomechanik Methode alpiner Skisport Verletzung Knie Schuh
Notationen: Naturwissenschaften und Technik
Herausgeber: Technische Universität München
Veröffentlicht: München 2001
Seiten: 291
Dokumentenarten: Dissertation
Sprache: Deutsch
Level: hoch